Troja, Praha

Es ist Sonntag und die Sonne scheint und ich spaziere die Moldau entlang, Richtung Stromovka-Park, und ich komme auf die Straße, die eigentlich nirgendwohin führt, über die aber trotzdem immer, wenn ich hier unterwegs bin, Autos rauschen, in rasantem Tempo. Warum man hier noch kein Radar aufgestellt hat, ist mir ein Rätsel, ich verstehe auch nicht, warum hier überhaupt Autos hin und herfahren, und wo sie verschwinden, denn gleich da vorn die Straße macht eine Biegung und dann kommt diese kurze Brücke über eine Art Kanal, und über die fahren keine Autos mehr. Ich überquere sie und komme runter zum Pferdegehege, wo die Straße zu Ende geht und ein schmaler Steg über die Moldau führt. Er führt ins Prager Stadtviertel Troja und wurde vor kurzem ganz neu errichtet, weil der alte Steg vor drei Jahren, es war genau um diese Zeit, Anfang Dezember, an einem Sonntagvormittag, einstürzte und in die Moldau fiel. 

Ich gehe heute nicht in den Park, sondern über den Steg, der ins Prager Stadtviertel Troja führt, genau, es heißt wie die antike Stadt, und in Troja leben heute alle Figuren aus der griechischen Mythologie, denn wie man weiß, sind Mythen unsterblich, und es gibt ja auch kein Troja mehr irgendwo am Ufer der Ägäis, in Prag aber schon, deshalb haben sie sich hierher zurückgezogen, Odysseus und Penelope, Kirke und die Sirenen, und der Mann mit den Pluderhosen, der gerade über den Steg geht, mit dem bunten Rucksack und den großen Kopfhörern, das ist Agamemnon, er scheint heute einen guten Tag zu haben, auch an Paris und Helena komme ich vorbei, sie sind am Geländer stehengeblieben und schauen Hand in Hand die Brücke hinunter, und merken nicht, dass jemand an ihnen vorbeigeht.

Troja ist ein ruhiges Viertel mit vielen Einfamilienhäusern, eher teuer, es leben hier eher reiche Leute, die Häuser sind groß, die Autos sind groß, es ist kein schlechter Ort für mythologische Gestalten. Und als ich auf der anderen Seite bin, biege ich nach links ab und gehe weiter, vorbei am Schlosspark, der heute nicht geöffnet hat. Ich gehe flussabwärts die Moldau entlang und komme bald zu der Stelle wo der Weg ganz nah am Wasser vorbeiführt, und die Sonne scheint mir direkt ins Gesicht, das Wasser glitzert und ein paar Schritte vor mir sehe ich vier Sirenen, die sich im Fluss baden, zwei Frauen und zwei Männer. Hier und heute sind die Sirenen nicht nur weiblich, sondern auch männlich, das ist mehr als verständlich und alles andere als komisch. Im Vorbeigehen wünscht mir einer einen guten Tag, was ich erwidere und ich frage, wie das Wasser sei, und sie sagen, großartig, warm, und ich bekomme Lust, es auch auszuprobieren, aber nicht heute, nicht jetzt, und gehe weiter und da kommt eine Frau mit einem großen Hund an mir vorbei, wir grüßen uns ebenfalls, und ich bin mir nicht sicher, ob sie auch eine mythologische Gestalt ist oder ob sie sich nur, so wie ich, hierher verirrt hat. 

Tag der Seelchen

Im atheistisch geprägten Böhmen ist der 1. November, Allerheiligen, kein offizieller Feiertag. Es gibt keine Messe, zu der die Leute nachmittags auf den Friedhof gehen, um ihrer Verstorbenen zu gedenken. In Prag sind die Gräber auch weniger stark geschmückt und gepflegt – ganz anders, als ich das aus katholisch geprägten Ländern wie Österreich oder Polen kenne, wo die opulent mit Blumen verzierten und hell erleuchteten Friedhöfe, die ich Anfang November in Krakau gesehen habe, fast etwas Kultisches haben. Im böhmischen Alltag ist der Feiertag allerdings als Begriff zu finden. Unter der Bezeichnung „dušičky“, was sich auf den als Allerseelentag bekannten 2. November bezieht, der in der Monarchie als Feiertag behandelt worden sei (zumindest erzählte mir das vor Jahren ein ehemaliger, inzwischen als Pfarrer tägiger Schulkollege). „Duše“, das tschechische Wort für Seele. Die Verkleinerungsform dazu heißt „dušička“, und der Plural „dušičky“. Wörtlich heißt der Feiertag also „Seelchen“, Arme Seelen. Womit der tschechische Name dieses „halben Feiertags“ eigentlich viel konkreter ist – in der katholischen Tradition gehen die Menschen an Allerheiligen ja gar nicht wegen der Heiligen auf den Friedhof. Die tschechische „Seele“, die „duše“, finden wir aber auch noch ganz woanders. Ich erinnere mich an einen Abend vor ein paar Jahren, es war wohl um diese Zeit, Anfang November, es war kalt und finster, als ich mit dem Fahrrad nach Hause fuhr und am Weg über die Brücke feststellte, dass ich keine Luft mehr im Hinterreifen hatte. Ich schob das Fahrrad auf dem letzten Stück und trug es dann in die Wohnung hinauf, wo ich es am nächsten Tag reparieren wollte. Da ich hatte keinen passenden Fahrradschlauch zu Hause hatte, schaute ich gleich nach, was ich mir denn da besorgen müsste, wonach ich im Laden fragen sollte. Nach einen Schlauch, tschechisch „hadice“ vermutlich. Keineswegs. Der läppische Schlauch hat im Tschechischen die edle Bezeichnung „duše“.

Teufel und Teufel

Vyhánět čerta ďáblem lautet eine tschechische Redensart. Es bedeutet, ein Übel durch ein anderes, zumeist noch schlimmeres, zu bekämpfen oder zu ersetzen. Auf Deutsch gibt es eine ähnliche Wendung, den Teufel durch Beelzebub austreiben. Die ist mir zwar irgendwie geläufig, aber ehrlich gesagt habe ich sie wohl noch nie jemanden sagen gehört. Der deutsche Beelzebub ist nur mehr rudimentär im Alltagswortschatz, während die zwei tschechischen Höllengestalten – ďábel und čert, wobei erstere angeblich die höhere Instanz sei – vergleichsweise oft herangezogen werden, zumindest ist das mein Eindruck. Ich denke dabei zum Beispiel an die ďábelská omáčka – Teufelssauce, eine angeblich besonders scharfe Sauce, für die Google 122.000 Ergebnisse, zumeist Rezepte findet, oder das beliebte Sprichwort Čert ví – weiß der Teufel, das ich auch schon von meiner Vermieterin gehört habe, als sie eine Gabel, die mir vom Balkon fiel, für mich suchte, und auch fand, aber dann verlegte. Und auch im Tschechischen kann man besagten Bösewicht an die Wand malen – malovat čerta na zeď. Und man kann sich sogar „teufeln“ oder „aufteufeln“ – čertit se, im Tschechischen ein umgangssprachlicher Ausdruck für „sich aufregen“. Dafür haben wir im Deutschen den schönen, nützlichen und sehr unübersetzbaren Ausdruck: „auf Teufel komm raus“.

Lyrik, Poesie, Dichtung

In der Oberstufe am Gymnasium hatten wir im Deutschunterricht kein Heft (und auch kein „Journal“, so wie zuvor in den ersten vier Klassen), sondern fünf Mappen – Dreiflügelmappen, jede in einer anderen, vorgegebenen Farbe. Das war die Idee unseres Deutschlehrers. Und jede Mappe umfasste einen bestimmten Themenkomplex, ich glaube, wir nannten es auch „Plateau“. Die Mappe für Lyrik und Poesie sollte schwarz sein. Ich weiß noch, dass es damals in unserer Kleinstadt nicht einfach war, an eine schwarze Dreiflügelmappe zu kommen, beim Libro, wo es sonst alle Schulsachen gab, hatten sie keine. In der kleinen Papier- und Buchhandlung auf dem Hauptplatz wurde man fündig. Schwarz für Lyrik und Poesie. Ich weiß noch, dass ich den Namen aus ausgerissenen Papierschnipseln aufklebte, da ich mir für jede Mappe eine andere Beschriftung einfallen ließ.

In der deutschen Sprache hat sich für dieses Genre – für die Dichtung – die Bezeichnung „Lyrik“ durchgesetzt, sie wird seit dem 18. Jahrhundert verwendet. Ich fand sie seriöser und weniger kitschig als den im Deutschen synonym, aber weniger gebrauchten Begriff „Poesie“, der mich an das Poesiealbum, vulgo Stammbuch, erinnerte, das Kinder meist im Volksschulalter beginnen und in das sie sich von Mitschülern und Lehrerinnen Sprüchlein und Lebensweisheiten schreiben ließen; auch ich besaß so eins. Bei „Poesie“ denke ich an schwulstige Sprüchlein. Nicht an ein Gedicht, nicht an den Text, den die Dichterin oder Lyrikerin schreibt. Im Deutschen ist sie keine Poetin, der Dichter kein Poet. Um Gedichte zu interpretieren (mein Deutschlehrer nannte das übrigens „Entfalten“) haben wir das lyrische Ich, das lyrische Du, sowie diverse Strukturen und Figuren. Das begleitende Instrument – die „Lyra“ oder „Kithara“ – und selbst das Vermaß sind in der gegenwärtigen Lyrik abhanden gekommen. Ein poetischer Text muss kein „Poem“, kein Gedicht sein. Ein poetischer Film? Ein stimmungsvoller, „dichterischer“ Film. Die Dichtung ist im Deutschen mehr „Lyrik“  als „Poesie“, anders als in den meisten europäischen Sprachen, wo der kitschige Beiklang der deutschen „Poesie“ sofort verschwindet: das englische „poetry“, das französische „poésie“, das spanische „poesía“, das russische „поэ́зия – poezija“ und auch das tschechische „poezie“ gehen zurück auf das griechische ποίησις – poiesis, was so viel bedeutet wie „Erschaffung, Erfindung“, also das Verfertigen und Hervorbringen von etwas, das noch nicht vorhanden ist. Womit eigentlich viel eher der Kern der Dichtung getroffen wird und worin sich zeigt, was Dichtung heute ist und kann: etwas zeigen und etwas sagen, was sich nicht anders ausdrücken lässt. Ein Gedicht ist verdichtend. Es ist immer mehr als das, was geschrieben werden kann. Es eröffnet unbetretbare Räume, es zeigt Unsichtbares. „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“ heißt ein Gedicht von Goethe, das wir bei einer Deutschschularbeit interpretierten. Von außen unscheinbar, doch ändert sich das, wenn man den Eingang findet und hineingeht.

Neulich schrieb mir ein Freund aus Österreich. Er nutzt die Ausgangsbeschränkungen im Zuge der Corona-Krise, um seinen Geschirrspüler zu reparieren und ist auf der Suche nach neuen Gummidichtungen. Im Internet fand er, dass Zubehör für die Marke seines Geschirrspülers bei zwei Firmen lieferbar sei – einer italienischen und einer tschechischen. Da der italienische Preis horrend hoch ist, bat er mich, nachzusehen, ob die tschechische Firma die benötigten Ersatzteile im Angebot hat. Er versuchte bereits selbst, sich die Ersatzteile mit Google Translate zu übersetzen und dann zu suchen, war dabei jedoch erfolglos. Denn wenn man dort „Dichtung“ eingibt, kommt als erstes Ergebnis „básnictví“ – ein Synonym zur deutschen Lyrik, zur tschechischen „poezie“. Ohne weitere Erklärung. Die weiteren Ergebnisse: „smyšlenka“ – Fiktion, Erdichtung, „pečeť“ – Siegel „ucpání“ – Verstopfung, Verdichtung. Erst das fünfte Angebot des automatischen Übersetzers kommt der gesuchten Sache näher: „těsnění“ – „Dichtung, Dichtungsmaterial“.

Prag, April 2020

Küchenschrank und Kühlschrank

In Prag wurden von 13. auf 14. März über Nacht alle Restaurants und Cafés geschlossen. Es war vorhersehbar, kam aber dann doch sehr plötzlich. Veranstaltungen wurden bereits davor abgesagt. Ich wollte am 14, das war ein Samstag, noch auf einen Kaffee gehen, daraus wurde nichts mehr. Es wird auch noch ein bisschen dauern, bis das möglich wird. Ich traf mich an dem Tag dann mit meiner Freundin A., die ich seitdem nicht mehr gesehen habe – und kaufte mir ein Sandwich, das war das letzte Mal, dass ich nicht zu Hause gegessen habe. A. ist in der Woche drauf zu ihren Eltern nach Deutschland gefahren und dort quasi gefangen – ohne die tschechische Staatsbürgerschaft darf man nämlich während des Notstands, der inzwischen bis 17. Mai verlängert wurde, nicht mehr einreisen. Mit ihr war ich zu Beginn des Lockdowns oft in Kontakt, um sich über die Nachrichten auszutauschen. Es fühlte sich an, als änderte sich jede Stunde etwas, wenn auch nur die Zahl der Neuinfektionen. Ende Februar oder Anfang März schrieb ich A., dass ich eigentlich nichts gegen eine Ausgangssperre hätte, ich sei ohnehin gerade gern zu Hause und hätte so viele Vorräte, die sich in meiner Küche angesammelt haben und die ich dann endlich mal verwerten könnte. Hamsterkäufe waren also nicht wirklich notwendig, ich hatte mich schon stufenweise und ganz ungewollt mit Linsen, Reis, Getreide, Nüssen und anderen haltbaren Lebensmitteln „eingedeckt“. An einem der ersten Tage durchforstete ich die Küchenschränke und machte eine Art Inventur, ich konnte mich freilich nicht an jedes Glas, nicht an jede Dose erinnern, die ich da verstaut hatte. Um nicht alles wieder zu vergessen, machte ich sogar eine Liste, auf der ich die Lebensmittel schrieb, die sich im jeweiligen Schrank befanden, um sie nicht zu vergessen. Denn die Schränke sind tief und das, was weit hinten steht, wird schnell vergessen.

Einen Abend verbrachte ich auch damit, den Kühlschrank zu putzen, der zur Zeit immer ziemlich voll war, erstens, weil er klein war, zweitens, weil ich alles frische Gemüse, und davon habe ich zur Zeit einfach mehr, dort lagere. Ich hörte dabei ein Interview mit der tschechischen Schriftstellerin Radka Denemarková, die sich zur Corona-Krise äußerte, und trank zwei Gläser Sekt – ebenfalls einer der Vorräte meiner Küchen-Schatzkammer. So wurde die Sache zu einer ganz angenehmen Angelegenheit, und endlich war es auch dort etwas übersichtlicher.

Im Kühlschrank befanden sich auch 3 x 200 g französischer Ziegenkäse, den ich im Februar aus Paris mitgebracht habe und beim nächsten Besuch in Österreich meinen Verwandten schenken wollte; und eine Packung tschechischer Camembert, Hermelín, den ich für meinen Freund gekauft habe, der eigentlich am Wochenende der Grenzschließung nach Prag kommen wollte. Besuche sind keine möglich. Nach Österreich und auch in ein anderes Land werde ich sobald nicht kommen. Aber es bleibt mir wohl nichts übrig, als den ganzen Käse selbst zu essen. Dabei esse ich sonst kaum Käse, mein Essen ist zum Großteil vegan.

 

Prag, April 2020