Lyrik, Poesie, Dichtung

In der Oberstufe am Gymnasium hatten wir im Deutschunterricht kein Heft (und auch kein „Journal“, so wie zuvor in den ersten vier Klassen), sondern fünf Mappen – Dreiflügelmappen, jede in einer anderen, vorgegebenen Farbe. Das war die Idee unseres Deutschlehrers. Und jede Mappe umfasste einen bestimmten Themenkomplex, ich glaube, wir nannten es auch „Plateau“. Die Mappe für Lyrik und Poesie sollte schwarz sein. Ich weiß noch, dass es damals in unserer Kleinstadt nicht einfach war, an eine schwarze Dreiflügelmappe zu kommen, beim Libro, wo es sonst alle Schulsachen gab, hatten sie keine. In der kleinen Papier- und Buchhandlung auf dem Hauptplatz wurde man fündig. Schwarz für Lyrik und Poesie. Ich weiß noch, dass ich den Namen aus ausgerissenen Papierschnipseln aufklebte, da ich mir für jede Mappe eine andere Beschriftung einfallen ließ.

In der deutschen Sprache hat sich für dieses Genre – für die Dichtung – die Bezeichnung „Lyrik“ durchgesetzt, sie wird seit dem 18. Jahrhundert verwendet. Ich fand sie seriöser und weniger kitschig als den im Deutschen synonym, aber weniger gebrauchten Begriff „Poesie“, der mich an das Poesiealbum, vulgo Stammbuch, erinnerte, das Kinder meist im Volksschulalter beginnen und in das sie sich von Mitschülern und Lehrerinnen Sprüchlein und Lebensweisheiten schreiben ließen; auch ich besaß so eins. Bei „Poesie“ denke ich an schwulstige Sprüchlein. Nicht an ein Gedicht, nicht an den Text, den die Dichterin oder Lyrikerin schreibt. Im Deutschen ist sie keine Poetin, der Dichter kein Poet. Um Gedichte zu interpretieren (mein Deutschlehrer nannte das übrigens „Entfalten“) haben wir das lyrische Ich, das lyrische Du, sowie diverse Strukturen und Figuren. Das begleitende Instrument – die „Lyra“ oder „Kithara“ – und selbst das Vermaß sind in der gegenwärtigen Lyrik abhanden gekommen. Ein poetischer Text muss kein „Poem“, kein Gedicht sein. Ein poetischer Film? Ein stimmungsvoller, „dichterischer“ Film. Die Dichtung ist im Deutschen mehr „Lyrik“  als „Poesie“, anders als in den meisten europäischen Sprachen, wo der kitschige Beiklang der deutschen „Poesie“ sofort verschwindet: das englische „poetry“, das französische „poésie“, das spanische „poesía“, das russische „поэ́зия – poezija“ und auch das tschechische „poezie“ gehen zurück auf das griechische ποίησις – poiesis, was so viel bedeutet wie „Erschaffung, Erfindung“, also das Verfertigen und Hervorbringen von etwas, das noch nicht vorhanden ist. Womit eigentlich viel eher der Kern der Dichtung getroffen wird und worin sich zeigt, was Dichtung heute ist und kann: etwas zeigen und etwas sagen, was sich nicht anders ausdrücken lässt. Ein Gedicht ist verdichtend. Es ist immer mehr als das, was geschrieben werden kann. Es eröffnet unbetretbare Räume, es zeigt Unsichtbares. „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“ heißt ein Gedicht von Goethe, das wir bei einer Deutschschularbeit interpretierten. Von außen unscheinbar, doch ändert sich das, wenn man den Eingang findet und hineingeht.

Neulich schrieb mir ein Freund aus Österreich. Er nutzt die Ausgangsbeschränkungen im Zuge der Corona-Krise, um seinen Geschirrspüler zu reparieren und ist auf der Suche nach neuen Gummidichtungen. Im Internet fand er, dass Zubehör für die Marke seines Geschirrspülers bei zwei Firmen lieferbar sei – einer italienischen und einer tschechischen. Da der italienische Preis horrend hoch ist, bat er mich, nachzusehen, ob die tschechische Firma die benötigten Ersatzteile im Angebot hat. Er versuchte bereits selbst, sich die Ersatzteile mit Google Translate zu übersetzen und dann zu suchen, war dabei jedoch erfolglos. Denn wenn man dort „Dichtung“ eingibt, kommt als erstes Ergebnis „básnictví“ – ein Synonym zur deutschen Lyrik, zur tschechischen „poezie“. Ohne weitere Erklärung. Die weiteren Ergebnisse: „smyšlenka“ – Fiktion, Erdichtung, „pečeť“ – Siegel „ucpání“ – Verstopfung, Verdichtung. Erst das fünfte Angebot des automatischen Übersetzers kommt der gesuchten Sache näher: „těsnění“ – „Dichtung, Dichtungsmaterial“.

Prag, April 2020

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