Bis in die Träume

Zwei Tage pro Woche unterrichte ich Deutsch als Fremdsprache an einem Gymnasium. Die höheren Jahrgänge. Es beginnt am Dienstag mit der achten Klasse. Auch während der Corona-Krise, wo die Schulen für den Unterricht geschlossen bleiben und dieser sich ins Internet verlagert. Für mich beginnt es also am Dienstag, um 12:00 treffe ich die acht Schüler und drei Schülerinnen in einem Online-Klassenzimmer, wie Skype, aber in der Gruppe. Sobald ich das virtuelle „Meeting“ betrete, erscheinen nach der Reihe unterschiedliche Gesichter und Hintergründe vor mir auf dem Computerbildschirm, wie ein Karussell. Schnell werden die Webcams ausgeschaltet; aber nicht alle reagieren sofort und ich schaue den Kindern, die eigentlich schon Jugendliche oder gar Erwachsene sind, aber ich nenne sie – heimlich, nur für mich – Kinder, ins Wohnzimmer, ins Kinder- oder eigentlich Jugendzimmer, oder in die Küche. Der eine stellt sein Omelett beiseite und greift kauend auf die Tastatur. Einer sitzt oben ohne und mit einer Gitarre vor sich da, ein anderer trägt einen Bademantel. Zwei Jungs liegen im Bett, auf dem Kopfpolster, so als würden sie gerade Netflix schauen. Chillout mitten im Schulalltag, der eben in der Form kein Alltag ist. Und dazwischen taucht mein Gesicht auf und leuchtet aus elf unterschiedlichen Notebooks und Tablets heraus.

Ich lasse meine Webcam an, richte mir die Haare und schaue mir selbst beim Sprechen zu, denn die Software macht immer den Bildschirm groß, auf dem gerade jemand spricht. Auf dem Monitor wirkt der Hintergrund des engen Kabinetts, in dem sonst die Kolleginnen vom Tschechischunterricht sitzen, viel größer. Hinter mir stehen viele Ordner, viele Bücher und ein paar Keksvorräte und Kinderfotos der Kollegin. Die Fotos verdecke ich später mit dem Schreibtischsessel ein bisschen, um ihre Privatsphäre zu schützen. Dazu bin ich schließlich auch da, zum Schutz meiner Privatsphäre. Ich könnte das alles auch bei mir zu Hause machen.

Wir sprechen über die Neuigkeiten und Nachrichten, bis auf meine sind mittlerweile alle Webcams aus, dann erkläre ich das Programm für die Stunde, die Aufgaben, und schicke die Kinder in einen Online-Klassenraum, wo sie Dateien und gegebenenfalls Links mit den Aufgaben finden, die sie mir bis Ende der Stunde wieder abgeben und die ich dann bewerte, korrigiere und mit Feedback versehe. Auch eine Prüfung hatten wir schon, zu der alle planmäßig und dann sogar mit Kamera und in recht professioneller Haltung erschienen sind, bis auf einen, der etwas verschlafen hat.

So oder so ähnlich läuft es jetzt dienstags und mittwochs mit den Deutschklassen, die mir anvertraut wurden. Ab und zu gehe ich zu meinem Kollegen im Nebenzimmer, der immer da ist, weil er Vollzeit Spanisch und Tschechisch unterrichtet, und den ich morgens des Öfteren mit provisorischem Mundschutz auf der Straße sehe, aber nie erkenne. Mit ihm tausche ich mich über das aktuelle Geschehen, zunehmend aber auch über semi-private und schulische Themen aus. Dann gehe ich wieder hinüber in „mein“ Kammerl, und klicke auf den Link zum Meeting mit der ersten sechsten Klasse. Die Webcams sind aus. G., der sonst immer gleich mit dem Sprechen loslegt, ist heute noch nicht da. Endlich kommen die anderen zu Wort, sie melden sich sogar freiwillig und stellen Fragen – meistens in Bezug auf die Benotung – die mir selbst nie einfallen würden – Müssen wir bei der Prüfung die Webcam eingeschaltet haben? – und auf denen ich mir schnell eine Antwort überlegen muss, denn es gibt keine Richtlinien für Onlineprüfungen. N. erklärt den anderen, was er heute vom Direktor erfahren hat. Dann kommt G. und steigt sofort ins Gespräch ein, bzw. unterbricht es, um sich zu entschuldigen, dass er zu spät kommt und mir im zweiten Satz auf Englisch davon zu erzählen, dass er heute von mir geträumt hat: Er kam zu mir nach Hause, ich kochte Spaghetti, die er irgendwie versaute, worauf ich sehr böse wurde und ihn davonjagte. Ich notiere mir den Traum beim Zuhören und denke daran, dass mir eine polnische Studentin in ihrem schriftlichen Feedback Ende des Semesters berichtete, dass ich ihr im Traum erschienen bin, und ebenfalls sehr böse war. Während G. mir per Videocall über den Traum erzählt, liefert er mir auch gleich die Deutung für den Traum: Er habe gestern Mittag Spaghetti gekocht und sich abends auf die Prüfung vorbereitet, mich auf Instagram gesucht – und gefunden und sich die Fotos angeschaut. So bin ich doch um meine Privatsphäre gekommen. Und in die Träume meiner Schüler.

Prag, April 2020

 

 

 

 

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